Shaun White: Ende einer Suprematie

Es war 0.30 Uhr, als Shaun White doch noch zur Pressekonferenz erschien, nachdem er vorher wortlos die Mixed Zone im Extreme Park Richtung Dopingkontrolle durchpflügt hatte. Der Rockstar unter den Snowboardern hätte nicht kommen müssen. Er hätte seinen Pressesprecher, seine Managerin oder jemand anderen aus seinem Tross vorschicken können oder ganz schweigen. Aber er kam trotzdem, er drückte sich nicht davor, dass Unfassbare in Worte zu fassen: Das Ende seiner Suprematie in der Halfpipe.

Laut Drehbuch sollte White in Sotschi zwei Goldmedaillen gewinnen: In der neuen olympischen Disziplin Slopestyle und in der Halfpipe, wo er schon 2006 und 2010 Olympiasieger geworden war. Darauf hatte er sich den ganzen Winter lang akribisch vorbereitet.

Doch White musste mit leeren Händen gehen. Im Slopestyle trat er gar nicht erst an, in der Halfpipe setzten ihn die Punktrichter auf Platz vier - ein Geschenk für einen, den normalerweise nichts außer Platz eins interessiert.

Für die Amerikaner gab es bei diesen Winterspielen bisher wenig zu holen. Nach dem Ausfall der Rennläuferin Lindsey Vonn wegen einer Knie-Operation schon vor den Spielen, nach der enttäuschenden Abfahrt von Bode Miller (8.) hat auch White die hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllen können. Der Olympia-Network NBC, der 775 Millionen Dollar für die Übertragungsrechte zahlte und in seinem Hauptprogramm konsequent auf Personalisierung setzt, braucht jetzt dringend neues Leitmotiv. Wie wäre es mit: Superstar verzweifelt gesucht?

Vor Olympia hatte NBC eine einstündige Dokumentation ausgestrahlt, von, mit und über Shaun White. Der Snowboarder, 2010 in Vancouver wegen seiner langen, roten Mähne noch als "Flying Tomato" bekannt, trägt die Haare inzwischen kurz. Er sieht aus wie Justin Bieber oder wie der smarte Jung-Unternehmer, der er auch ist: Chef und Inhaber von Shaun White Enterprises, der Firma, die das Produkt Shaun White in allen Facetten vermarktet: Den professionellen Snow- und Skateboarder, den Mode-Produzenten, den Rock-Gitarristen der Band Bad Things, die Sponsoren-Partnerschaften.

"Was heute Nacht passiert ist, daran wird meine sportliche Karriere nicht zerbrechen", sagte White. "Ich liebe das Snowboarden, es hat mir viel gegeben, aber es ist auch nicht alles in meinem Leben." Abstand will er nun erst einmal gewinnen, mit der Band auf Tour gehen - und sich dann wieder aufs Snowboard schwingen. "Die Tricks, die ich in der Vorbereitung auf diesen Wettkampf gelernt habe, werden als Basis für die nächsten Jahre vorhalten." Ende einer Ära? Davon will White nichts hören.

"Sein" Olympiagold gehört nun verdientermaßen einem Russen mit Schweizer Pass: Iouri Podladtchikov zeigte im zweiten Finallauf zwei Double Corks, also Sprünge mit Doppelsalto, und zum Schluss auch noch den von ihm im letzten Jahr erfundenen YOLO-Flip ("You only live once"), einen Doppelsprung mit vier Körperdrehungen, den White adaptieren musste, um konkurrenzfähig zu bleiben. "Wir tun Dinge, die niemand sonst tun kann", sagte Podladtchikov stolz. Der Sohn eines Geophysikers kam mit acht Jahren in die Schweiz und spricht fließend russisch, englisch und schwyzerdütsch, auch durcheinander, wie er im Überschwang nach seinem Sieg demonstrierte.

Zum ersten Mal seit 1998, seit die Halfpipe zum olympischen Programm gehört, mussten die US-Amerikaner ohne Medaillen nach Hause abziehen. Silber und Bronze gingen an die Japaner Ayumu Hirano und Taku Hiraoka, der eine erst 15, der andere 18 Jahre jung. Als Shaun White 15 Jahre alt war, verpasste er die Olympia-Qualifikation für Salt Lake City um wenige Zehntelpunkte. Jetzt ist er 27 und der Älteste im Wettbewerb. Womöglich war Sotschi für Shaun White der Anfang vom Ende, nur will er es noch nicht wahrhaben.
Zuletzt bearbeitet 12.02.2014 19:09 Uhr