Peking 2022 und die Rückkehr des Kalten Krieges

Die Schwimmsportzentrum Water Cube, hier während der Olympischen Spiele 2008, wurde für die Winterspiele 2022 zum Ice Cube mit vier Curlingfeldern.
Foto: Dirk Schmidtke
Die Schwimmsportzentrum Water Cube, hier während der Olympischen Spiele 2008, wurde für die Winterspiele 2022 zum Ice Cube mit vier Curlingfeldern.
Foto: Dirk Schmidtke
Von Boykottaufrufen und dem Coronavirus bedroht, schienen die 24. Olympischen Winterspiele schon vor ihrem Beginn dem Untergang geweiht – zumindest aus Sicht der westlichen Welt. Nur sechs Monate nach den um ein Jahr verschobenen „Corona-Spielen“ in Tokio pünktlich am 4. Februar 2022 eröffnet, waren Chinas erste Winterspiele von einer „Null-Toleranz-Politik“ gegen die Pandemie gekennzeichnet. Nicht anders als zuvor in Japan wurden Teilnehmer und Tross in einer sogenannten "olympischen Blase" separiert. Anders als in Tokio waren Zuschauer zwar zugelassen, aber nur in handverlesenen einheimischen Gruppen.

Ausländische Beobachter befürchteten allerdings, dass die chinesischen Behörden die Pandemie gegen alles, was politisch missliebig war, instrumentalisieren würden: Null Toleranz also auch gegenüber Kritik an Staat, Regierung und Zensur. Würden die Chinesen am Ende selbst Olympiateilnehmer, die sich politisch kritisch äußerten, in Quarantäne-Hotels auslagern? Der Deutsche Olympische Sportbund stattete seine Mannschaftsmitgliedern sogar mit Wegwerf-Handys aus - offenbar aus Angst davor, dass die chinesische Corona-App ihre Halter per Software-Hintertür ausspionieren könnte.

Politischer Klimawandel
Waren die Sommerspiele 2008 in Peking noch von einer gewissen Faszination des Westens begleitet, der auf eine Öffnung Chinas (und natürlich auf neue Geschäfte mit dem Milliardenvolk) mit Hilfe des olympischen Vademekums hoffte, so hatte sich die Stimmung seit der Machtübernahme von Xi Jinping, der 2012 zum KP-Chef und 2013 zum Staatspräsidenten (seit 2018 ohne Amtszeitbegrenzung) gekürt wurde, um 180 Grad gedreht. Vor allem wegen seiner aggressiven Minderheitenpolitik und dem gewaltsame Vorgehen gegen die Protestbewegung in Hongkong stand China im Fadenkreuz der Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Dissidenten.

Allerdings war es nicht die Menschenliebe, um derer willen der 45. US-Präsident Donald Trump 2018 einen Handelskrieg mit China angezettelt hatte, sondern schnödes wirtschaftliches Interesse: Die USA wollten ihr Außenhandelsdefizit reduzieren und verhängten wegen „unfairer Handelsmethoden“ hohe Strafzölle, auf die China mit Gegenzöllen antwortete. Derweil stellte man in der Europäischen Union mit Ausbruch der Corona-Krise fest, wie hoch die Abhängigkeit war, in die sich die EU-Mitgliedsstaaten etwa von chinesischen Medizinprodukten gemacht hatten.

Im Lichte dieser wirtschaftlichen Anhängigkeit in einer globalen Ökonomie wirkten die Boykott-Aufrufe gegen die Winterspiele in Peking wie eine Ersatzhandlung - irrational, wenn nicht sogar bigott, jedenfalls wie ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten des Kalten Kriegs. Ja, ihr Zeitpunkt mutete sogar wie eine zynische Ironie der Geschichte an. Just in jenem Jahr 2021 nämlich, als US-amerikanische Kongressmitglieder Mehrheiten für einen Olympiaboykott zu mobilisieren suchten, zog der 46. US-Präsident Joe Biden Knall auf Fall seine Truppen aus Afghanistan ab, um das Land sich selbst und den Taliban zu überlassen. 41 Jahre zuvor hatten die USA unter dem 39. Präsidenten Jimmy Carter die Olympischen Spiele 1980 in Moskau als Strafmaßnahme gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan boykottiert.

Was also bringt ein Olympiaboykott? Zumindest im Fall von Afghanistan lässt sich sagen: Nichts, aber auch gar nichts hat dieser Akt der Symbolpolitik geändert. Umso schmerzhafter traf er die Olympischen Spiele, denn nach Moskau 1980 schritt der Ostblock zum Gegenboykott der 1984er Spiele in Los Angeles.

IOC-Reaktionen auf die Boykottdrohung
Umso alarmierter reagierte das IOC auf die neuerlichen Boykottbestrebungen vor allem aus Amerika, zumal die USA mit ihren lukrativen Fernsehrechten und Sponsorengeldern als Hauptfinanzier der Olympischen Spiele fungieren, wobei das Top-Sponsorenprogramm mit Alibaba auch den ersten chinesischen Partner akquiriert hat. Die Rechtsanwältin Anita deFrantz, die 1986 als erste Afroamerikanerin IOC-Mitglied wurde, schrieb in einem Beitrag für die Financial Times:

„Die Pandemie hat bereits die Olympischen Spiele in Tokio verzögert und schwebt immer noch über Peking. Athleten mussten ihr Leben und Training neu konfigurieren, und diese Ungewissheit geht mit echten Kosten für die Wettkämpfer, ihre Trainer und ihre Familien einher. Sie sollten obendrein nicht auch noch zu politischen Schachfiguren gemacht werden. Diejenigen, die für die Spiele 2022 in Peking trainieren, haben sich das Recht verdient, ihre Länder zu vertreten. Wir müssen dieses Recht respektieren und wir müssen sie und die Opfer, die sie gebracht haben, unterstützen.”

DeFrantz ist selbst als aktive Ruderin 1980 um ihre Olympiateilnahme in Moskau gebracht worden – genauso wie der Fechter Thomas Bach, der dem damaligen deutschen NOK-Präsidenten Willi Daume als mutiger Athletensprecher und Mitstreiter gegen den Boykott auffiel. Mittlerweile IOC-Präsident, tritt Bach als Befürworter eines „unpolitischen“ Sports auf.

Unpolitisch zu sein, fällt schwer
Die politische Neutralität aufrechtzuerhalten fällt allerdings schwer angesichts der Vorwürfe des Westens, dass die Winterspiele nur eine Propagandaveranstaltung Chinas seien, während im Gegenzug die chinesische Seite Stärke demonstriert und am Vorabend der Winterspiele ein umfangreiches Abkommen mit Russland unterzeichnet. Dass bei der Eröffnungsfeier dann eine Uigurin, also eine Angehörige jener muslimischen Minderheit, die nach Angaben internationaler Menschenrechts-Organisationen schlimmen Repressionen - einzelne Quellen sprechen sogar von einem Genozid - ausgesetzt sind, ließ sich je nach Interpretation als versöhnende oder verharmlosende Geste, aber auch als provokante Macht-Demonstration lesen.

Der IOC-Pressesprecher spielte diesen Symbolfall der Eröffnungsfeier herunter, aber gefallen hat er dem IOC sicher nicht, und "unpolitisch" war er schon gar nicht. Jedenfalls hat Bachs IOC vor allem in seinem Heimatland Deutschland nur noch wenig Anhänger. In einer kurz vor der Eröffnungsfeier veröffentlichten Umfrage des ARD-Deutschlandtrends hielten 66 Prozent der Befragten die Vergabe an Peking rückblickend für falsch – mehrheitlich wegen der politischen Verhältnisse in China.

Krisenmanager Bach
In olympischen Zirkeln sieht man das naturgemäß anders. Der Kanadier Richard Pound, einer der profiliertesten Sportfunktionäre und 2001 selbst IOC-Präsidentschaftskandidat, verfasste in einem weiteren Zeitungsbeitrag – auf Deutsch am 8. März 2021, also unmittelbar vor den Spielen in Tokio, und bereits unter dem Eindruck der Boykottstimmen gegen Peking in der Welt veröffentlicht – sogar eine Empfehlung für Bachs Wiederwahl als IOC-Präsident und Krisenmanager:
„Was das Ergebnis der bevorstehenden virtuellen IOC-Session vom 10. bis 12. März angeht, kann ich aus der Perspektive eines IOC-Mitglieds sagen, dass wir alle sehr erleichtert waren, als wir erfuhren, dass sich Bach bereit erklärte, für seine zweite und letzte Amtszeit zu kandidieren. Jedoch überraschte uns seine Entscheidung nicht. Sein Engagement für das IOC und die olympische Bewegung ist so groß, dass er niemals auch nur in Erwägung ziehen würde, das IOC inmitten einer solchen Krise führungslos zu lassen.“

Pound empfahl den westlichen Regierungen auch, "ihrem Unmut" über Chinas Politik auf andere Weise Ausdruck zu verleihen: "Jede politische Führung kann chinesische Einladungen zu olympischen Veranstaltungen ablehnen. Sie kann ihre Regierungsbeamten anweisen, nicht an olympischen Veranstaltungen teilzunehmen."

Und so kam es dann auch. Am Ende des Jahres 2021 verhängte US-Präsident Biden einen "diplomatischen Boykott" der Olympischen Winterspiele, dem sich einige Länder anschlossen - jedoch nicht die Bundesrepublik, deren Spitzenpolitiker der Eröffnungsfeier lediglich aus "privaten Gründen" fernblieben, weil sich Deutschland und die EU nicht auf eine starke Position gegen den Geschäftspartner China verständigen konnten oder wollten.

Peking keine gute Wahl für Winterspiele
Anders als die politisch auch schon umstrittenen Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, die Bach als Kuckucksei von seinem Vorgänger Jacques Rogge übernommen hatte, fiel die Wahl Pekings für die Winterspiele bereits in seine 2013 begonnene erste Amtszeit. Es hätte - jenseits aller politischen Vorbehalte - gute Gründe dafür gegeben, Peking nicht den Zuschlag zu geben.

Allein klimatisch ist die chinesische Hauptstadt nicht für den Wintersport geeignet. Die Durchschnittstemperaturen im Februar liegen über dem Gefrierpunkt, die Luftfeuchtigkeit ist gering. Selbst die rund 200 km und 100 km nördlich liegenden Bergregionen von Zhangjiakou und Yanqing, die entgegen den Geboten der Nachhaltigkeit erst als Skigebiete erschlossen werden mussten, „haben nur wenig Schneefall im Jahr und müssten für die Spiele komplett auf Kunstschnee zurückgreifen“, wie schon der Bericht der IOC-Evaluierungskommission vom 1. Juni 2015 warnte.

Dass die 128. IOC-Session 2015 in Kuala Lumpur dennoch Peking den Zuschlag erteilte, lag schlicht an einem Mangel an Alternativen. Als einziger Gegenkandidat war Almaty in Kasachstan übrig geblieben. Das Wahlergebnis fiel für Peking mit 44:40 Stimmen nicht eben strahlend aus. Zuvor hatten mehrere europäische Städte, darunter auch München nach einem Bürgerentscheid, ihre Kandidaturen zurückgezogen.

Seither ist immerhin ein Umschwenken sichtbar. Die Zeiten, in denen das IOC keine Kandidaten finden konnte, scheinen vorbei, zumal unter Bachs Führung das Bewerbungssystem reformiert worden ist. So kehren die Olympischen Winterspiele 2026 in die Alpen nach Cortina (zusammen mit Mailand) zurück, dorthin, wo sie – jedenfalls nach hiesiger Meinung – auch gehören. Woraus allerdings auch eine gewisse Borniertheit spricht: Dahoam ist’s eben doch am schönsten.

Der Artikel erschien zuerst am 4. Februar 2022 und wurde nach der Eröffnung noch einmal ergänzt.
Zuletzt bearbeitet 06.02.2022 12:46 Uhr