Die 16-Jährige, die schneller als Ryan Lochte schwimmt

Von wegen Lochte vs. Phelps. Die 16-jährige Chinesin Ye Shiwen schwimmt bei ihrem Olympiasieg über 400 m Lagen die letzte Bahn schneller als der Amerikaner Ryan Lochte bei seinem Sieg auf derselben Strecke. Jens Weinreich wundert sich und fragt auf der Pressekonferenz nach, kann aber kein Chinesisch.
"Hast Du das gesehen? Hast Du das gesehen? Shiwen war schneller als Lochte!"
Irgendwie haben die deutschen Verlags-Medien und Agenturen das erst mal verpennt, schließlich ist Samstag - oder sie stellen ihre Geschichten nicht ins Netz. Immerhin: Die taz antizipiert einen Kampf der Geschlechter im Schwimmbecken, die Süddeutsche erschaut eine fabelhafte Freakshow.

Und die Amerikaner sind vor allem besoffen vom Hype um Lochte und Phelps. Die New York Times immerhin findet noch mehr Gründe, sich zu wundern:
What was also striking about Ye's record swim of 4 minutes 28.43 seconds was that she managed it in a textile suit while the record she broke - Stephanie Rice's 4:29.45 - was set in the age of polyester suits and serial record breaking.
Und: Lochte Calls Chinese Woman Swimmer "Impressive"

Aha. Das Wochenende ist vorbei. Der Guardian zitiert einen alten Bekannten:
The American John Leonard, executive director of the World Swimming Coaches Association, said the 16-year-old's performance was "suspicious" and said it brought back "a lot of awful memories" of the Irish swimmer Michelle Smith's race in the same event at the Atlanta Olympics in 1996. Smith, now Michelle de Bruin, was banned for four years in 1998 after testing positive for an anabolic steroid.
Ex-Schwimmer Thomas Rupprath, für Eurosport im Einsatz, verteidigt die Chinesin:
Wir haben in der Vergangenheit schon mehrere Schwimmerinnen aus China gesehen, die im Alter von 16 Jahren Topleistungen gebracht habe. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass Franziska van Almsick in diesem Alter Weltrekord geschwommen ist und den WM-Titel geholt hat. Ob Michael Gross oder Michael Phelps, es gab in der Geschichte zahlreiche Schwimmer, die in jungen Jahren schon top drauf waren. Wirklich erklären kann die Tatsache, dass eine Frau hinten raus genauso schnell ist wie ein Mann natürlich nicht.
Schwupps. Und da waren es schon zwei Goldmedaillen:
Another race, another record, another gold medal for Ye Shiwen. But the questions never change.Andrew Das, NY Times
Aber da sind ja noch andere Teenager, die höchst erfolgreich schwimmen: Ruta Meylutyte und die US-Amerikanerin Missy Franklin, erfolgreichste Schwimmerin dieser Spiele. Stehen also nur 16-jährige Chinesinnen unter Doping-Verdacht? Zeit für etwas Selbstkritik aus N.Y.
When United States swimmers take home bushels of medals, we celebrate Yankee determination. When 17-year-old Missy Franklin wins gold, we celebrate the vitality of American youth.

When China wins, we criticize its exploitive athletic system. When a 16-year-old Chinese girl sets a world record and swims one leg of her event faster than one of our best male swimmers, it’s because she may have cheated. This has become the American perspective: the United States is great because it is great; China is good because it cheats.William C. Rhoden, NY Times
SZ-Wissenschaftsredakteur Werner Bartens sucht angesichts der vielen Wunderkinder im Wasser nach wissenschaftlichen Erklärungen einschließlich Affenfaktor (Spannweite der Arme im Verhältnis zur Körperlänge) und Quadratlatschen:
Ian Thorpe mit seinen Quadratlatschen und Michael Phelps, dessen Oberkörper so aussieht, als ob er aus ein paar zusätzlichen Brustwirbeln zusammengebaut wurde, haben diese für Schwimmer idealen exzentrischen Maße. Die frisch gebackene Goldmedaillengewinnerin über 100 Meter Rücken, Missy Franklin aus den USA, hat ebenfalls ungewöhnlich große Füße und sehr lange Arme.
Dagegen kann man auch ohne große Muskelpakete (hallo, Paul Biedermann!) gewinnen, wie das schlanke Fräulein Ye, aber auch der Franzose Yannick Agnel bewiesen haben.
Dicke Muskelpakete sind also nicht entscheidend, um im Wasser rascher voranzukommen. Sie ermüden sogar schneller. Die sich bei Anstrengung vermehrt in den Muskeln bildende Milchsäure ("Laktat") tut nämlich höllisch weh.

Neuere Dopingmittel, die sich bisher kaum nachweisen lassen, zielen denn auch weniger darauf ab, allein Kraft oder Ausdauer zu steigern. Vielmehr können sie die Ermüdung hinauszögern und dazu beitragen, Schmerzen länger zu ertragen, wenn die Muskeln brennen. Leistungssportler haben im Mittel sowieso eine deutlich höhere Laktattoleranz, das heißt, sie halten die Milchsäureablagerung länger aus. Ließe sich diese muskuläre Duldsamkeit steigern, purzelten demnächst sicher weitere Rekorde.Werner Bartens, Süddeutsche
Zuletzt bearbeitet 01.08.2012 09:15 Uhr